Noch bis zum 18. August 2019 zeigt das Niedersächsische Landesmuseum in Hannover die Ausstellung „Saxones - Eine neue Geschichte der alten Sachsen“. Danach wandert die Ausstellung nach Braunschweig in das Braunschweigische Landesmuseum, wo sie vom 22. September 2019 bis 02. Februar 2020 zu sehen sein wird.
Was ist das Besondere an dieser Austellung? In gewisser Weise ist es schon die Tatsache, dass sie existiert. Während die Wikingern in Skandinavien, die Angelsachsen in England und die Kelten in Süddeutschland durchaus große Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit erfahren, bleiben die Altsachsen - obwohl namensgebend für das Land Niedersachsen - weitestgehend unbeachtet. Die Altsachsen schaffen es normalerweise nicht weiter als in den Lokalteil einer Provinzzeitung, wenn irgendwo eine Ausgrabung stattfindet und erstaunt festgestellt wird, dass dort einmal Sachsen lebten...
Das Niedersächsische Landesmuseum bringt nun der spannenden Geschichte der alten Sachsen die verdiente Aufmerksamkeit. Die Ausstellung möchte alte Mythen und Legenden entkräften und eine neue Geschichte des 1. bis 10. Jahrhunderts im heutigen Niedersachsen und Westfalen erzählen. Aus der Pressemitteilung des Landesmuseums: „Viele hochrangige Zeugnisse des 1. Jahrtausends aus deutschen und internationalen Sammlungen in Großbritannien, Dänemark oder Frankreich bringt diese Schau erstmals zusammen. Die Ausstellung präsentiert umfangreiche Ensembles archäologischer Funde und prominente Einzelobjekte, darunter edler Schmuck und Waffen aus Gräbern, einzigartige Handschriften und königliche Urkunden.“ Mein Fazit vorweg: Der Besuch lohnt sich! Auch wenn es durchaus Kritikpunkte gibt...
Im ersten Raum der Ausstellung wird versucht, die traditionelle Vorstellung von den Altsachsen zu widerlegen, was allerdings etwas aufgesetzt oder erzwungen erscheint. Wohl kaum jemand hält das Niedersachsenlied heute noch ernsthaft für korrekte Geschichtsschreibung. „Niedersachsen“ ist auch keine rein künstliche Erfindung der Nachkriegszeit nach 1945, sondern geht zurück auf den bereits 1512 eingerichteten niedersächsischen Reichskreis. Und ein eigenes „Sachsentum“ gibt es im Gebiet des heutigen Niedersachsen bereits seit dem 10. Jahrhundert - wie die Ausstellung ja später selber zeigt.
In den folgenden Räumen ist die Ausstellung chronologisch aufgebaut: Die Jahrhunderte werden mit archäologischen Fundstücken präsentiert, denen auf einem abgetrenntem Podium die schriftliche Überlieferung aus dem jeweiligen Jahrhundert gegenübergestellt wird. Die Ausstellungstexte sind zum Teil gewöhnungsbedüftig, wenn nicht sogar unwissenschaftlich. Eigentlich ist es Konsens in der Wissenschaft, dass moderne Begriffe der Neuzeit nicht geeignet sind, um Frühgeschichte und Frühmittelalter angemessen zu beschreiben. So ist es beispielsweise nicht mehr üblich, von einem „Volk“ der Sachsen zu sprechen, in der Völkerwanderung sind keine ganzen „Völker“ gewandert und germanische Thingversammlungen werden nicht mehr mit einer modernen „Demokratie“ gleichgesetzt. Dennoch hält sich die Saxones-Ausstellung nicht daran und beschreibt beispielsweise die Merowinger als Könige mit „Migrationshintergrund“.
Die „neue Geschichte der alten Sachsen“ beginnt um das Jahr 100 n. Chr. mit den ersten Berichten römischer Autoren.
In Niedersachsen und Westfalen leben damals zusammen kaum mehr als einige Hunderttausend Menschen. Die Römer zählen sie zu den „Germanen“ und unterscheiden verschiedene „gentes“, Clans oder Stämme. „Saxones“ sind nicht dabei.
Das 3. Jahrhundert wird in der Ausstellung als die Zeit der „Netzwerker“ präsentiert, während der eine selbstbewusste romanisierte Elite im heutigen Niedersachsen das Sagen hatte.
Die Reichen im Land sind Teil eines europaweiten Netzwerks der germanischen Oberschicht. In diesen Kreisen zirkulieren Menschen, Waren und Wissen, über Hunderte von Kilometern. Teure Geschenke aus aller Herren Länder besiegeln Bündnisse. Mehr denn je gilt: Auch im Tod wird gezeigt was man hat und wer man ist. Sehr reiche Grabfunde lassen erkennen: Die sozialen Unterschiede sind groß.
Das 4. Jahrhundert und die 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts ist die „Gründerzeit“: Germanen aus Niedersachsen dienen in der römischen Armee und erwerben damit enorme Vermögen.
Im Elbe-Weser-Dreieck greifen Söldner Roms in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts erfolgreich nach der Macht. Sie können ihre Anhänger reich beschenken. Ihr Herrschaftsgebiet reicht bis zur mittleren Weser. Manche Forscher sind überzeugt: An der Spitze ihrer Hierarchie steht ein König. Um 410 gibt das weströmische Reich seine Provinz in England auf. Das entstehende Machtvakuum lockt germanische Warlords vom Kontinent, denen es vielerorts gelingt, Land und Leute zu unterwerfen. Von Anfang an dabei: Glücksritter aus dem Elbe-Weser-Dreieck.
Von der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts bis zur 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts war das Land der alten Sachsen ein „Land vieler Herren“: Der Einfluss aus Skandinavien nahm zu, um das Jahr 500 wurde das Reich der Thüringer ein Machtfaktor auch in Niedersachsen und über den Hellweg gab es intensive Verbindungen in linksrheinische Gebiete im Reich der Merowinger.
Die Herren des Elbe-Weser-Dreiecks gehören zu den „global playern“ rund um die Nordsee. Tonangebend werden dort südskandinavische Magnaten. Ihr Code der Macht: Goldene Halsringe und Amulette mit skurril verrenkten Gestalten. Um 500 löst er bei uns den Military-Look der Söldner ab.
Relativ viel Raum nimmt in der Ausstellung das Jahr 531 n. Chr. ein: In diesem Jahr eskaliert eine Konfrontation zwischen dem Merowingerkönig Clothar I. und dem Thüringerkönig Herminafrid. Die Thüringer sind unterlegen und zwischen den Fronten landen die Altsachsen, wie es die Gräber von fünf Kriegern am Hellweg bezeugen. Die Ausstellung spricht von einem „Spiel der Könige“ - wohl nicht ohne Hintergedanke als Anspielung auf „Game of Thrones“. Nach dem Tod des Thüringerkönigs sind die Machtverhältnisse undurchsichtig – nicht zuletzt für die Ausstellungsmacher, die dieses erfreulich ehrlich zugeben.
Weiter im Norden, an der Küste und am Unterlauf von Weser und Elbe wirkt das Land wie leergefegt. Aus der Zeit zwischen 550 und 700 kennen wir von dort nur sehr wenige archäologische Funde. Was ist da los? Ist das eine Forschungslücke? Um ehrlich zu sein: Wir wissen es noch nicht.
Im Raum zwischen Rhein und Elbe beanspruchen jetzt die Frankenkönige die Oberherrschaft.
Aber offensichtlich tanzen nicht alle nach der Pfeife der Franken. Die neuen Machthaber unternehmen immer wieder Strafexpeditionen. Für Aufständische irgendwo zwischen Rhein und Elbe haben sie einen Namen: „Saxones“. Die Leute, die die Franken Sachsen nennen, bestehen aus verschiedenen Gruppen. Westfalaos werden sie genannt, Angrarii und Austreleudi Saxones, „östliche Sachsen“.
Es folgen das 8. und 9. Jahrhundert und damit die Zeit der Sachsenkriege. Die Beschreibung der Ereignisse fällt nur relativ kurz aus, es hätten durchaus mehr Details zu den Schlachten und Kriegszügen erwähnt werden können.
Die Religion der Sachsen war den Frankenkönigen lange egal. Aber Karl der Große setzt hier den Hebel an. Er wirft den Aufständischen Feindseligkeit gegenüber dem Christentum vor. „Sachsen“ bedeutet ab jetzt: ehrloses Heidenpack! Mit Gott auf seiner Seite geht Karl gegen die Ungläubigen vor. Er lässt ihnen die Wahl: Taufe oder Tod. In der „Saxonia“ kommt es zu Massenhinrichtungen und Deportationen, heilige Orte werden zerstört. Nach heutigen Begriffen war das Terror.
Unter der Überschrift „Unternehmen Gottesstaat“ werden die Erschließung und Strukturierung der „Saxonia“ unter der Frankenherrschaft und die Gründung von Klöstern und Bistümern beschrieben. Im 10. Jahrhundert fällt dann schließlich die Macht zurück in sächsische Hände – und der Mönch Widukind zeichnet mit der „Res Gestae Saxonicae“ einen „Tatenberich der Sachsen“ auf, die erste eigene Geschichte der Sachsen.
Was für eine Erfolgsgeschichte: Nur gut 100 Jahre zuvor haben sich als „Sachsen“ und „Heiden“ diffamierte Adelsfamilien der Herrschaft Karls des Großen gebeugt – und jetzt regiert einer der ihren im Reich des Frankenkönigs. Und Heinrichs Sohn wird der mächtigste Herrscher in Europa: Kaiser Otto der Große.
Im letzten Raum fällt die Qualität der Ausstellung plötzlich deutlich ab. Es scheint ein wenig so, als ob den Ausstellungsmachern am Ende die Zeit, der Platz, das Geld oder schlicht die Motivation ausgegangen sei. Mit nur wenig Text an einer ansonsten leeren Wand werden einige historische Ereignisse entlang einer Zeitleiste aufgeführt, die zielstrebig zum heutigen Bundesland „Sachsen“ führen, was fälschlicherweise den Eindruck einer Kontinuität vortäuscht. Es fehlt dagegen eine Vertiefung in Ereignisse, die den Namen „Sachsen“ mit Norddeutschland in Verbindung bringen. Sicher, man könnte argumentieren, dass dieses über das hinausgeht, was von einer Archäologie-Ausstellung zu erwarten wäre. Aber es ist das erklärte Ziel der Ausstellung, herauszufinden „wer die (Nieder-)Sachsen sind“. Wenn bei dieser Zielsetzung viele Jahrhunderte mit sächsischer Identität in Norddeutschland durch Weglassen verschwiegen werden, kann man leicht zu missverständlichen Schlussfolgerungen kommen - etwa zu der, dass „alle“ Sachsen sein könnten. Genau das geschieht, wenn am Ausgang der Ausstellung eine Europakarte hängt, auf der sich jeder Besucher willkürlich als „Sachse“ eintragen kann.
Der Name der Sachsen stiftet bis heute Identität. Außer den Sachsen in Sachsen – also Menschen, die zum Beispiel aus Dresden oder Leipzig stammen – gibt es noch andere Sachsen: Siebenbürger Sachsen, deren Heimat in Rumänien liegt, die Angelsachsen und natürlich die Niedersachsen. Und Saksalainen: So nennt man in der finnischen Sprache Deutsche. Sie alle tragen den gleichen Namen – aber aus verschiedenen Gründen. Ein Volk sind sie nicht. Identitäten sind soziale Konstrukte – im 1. Jahrtausend genauso wie heute.
Insgesamt bleibt das Gefühl, dass die Ausstellung nicht ganz den „richtigen Ton“ trifft: Einerseits wird zu wenig Vorwissen vorausgesetzt, was in der vereinfachten Sprache zum Ausdruck kommt, andererseits gibt es Verkürzungen und Auslassungen. Trotz der Kritik: Die Saxones-Ausstellung ist sehr zu empfehlen - und das Begleitbuch ebenso. Die Auswahl und Menge an zusammengetragenen - und in Zusammenhang gebrachten - archäologischen Fundstücken ist einzigartig. Es bleibt zu hoffen, dass es irgendwann einmal eine Fortsetzung gibt: Saxones II, sozusagen. Nicht nur, um die Geschichte der Sachsen weiter zu erzählen, sondern auch, um die noch bestehenden Wissenslücken zu schließen und neue Forschungsergebnisse zu präsentieren.
Das Begleitbuch zur Austellung:
Ludowici, Babette (2019): Saxones - Eine neue Geschichte der alten Sachsen, WBG Theiss Verlag.